Habt ihr selbst Erinnerungen an die DDR oder spielt das Thema bei euch im Umfeld eine Rolle? Oftmals wird ja die Rolle von Zeitgeschichte in der Psychotherapie unterschätzt.
Ja ich kann mich noch gut an die DDR-Zeit erinnern. Aber nur als Kind bis zum 12. Lebensjahr. Ich habe in meinen Ausbildungen den russischen Psychoanalytiker Rubinstein gelesen und "studiert". Vor allem seine Handlungstheorien haben mich sehr beeindruckt.
Zur Wende war ich 33. Ich könnte stundenlang über die DDR erzählen, aber was mir so spontan einfällt: In den 70ern gab es eine sehr große "Szene" suchender Jugendlicher ("Alternativer"), und ich wäre mal so frei zu behaupten, dass wir uns selber die besten Psychotherapeuten waren. Ich erinnere mich an nächtelange Gespräche bei "Stierblut" und Hannes Wader über unsere inneren und äußeren Probleme, Auseinandersetzungen mit der christlichen Religion, Sinnsuche, Fluchtpläne vs. dem "Mut hierzubleiben". Wir und etliche Jugendpfarrer, allen voran der unvergessene Walter Schilling aus Braunsdorf in Thüringen; sie gaben uns eine geistige und seelische Heimat, vermittelten einen Sinn innerhalb der Mauern. Ganz groß in Mode waren "idealistische" Berufe: die Arbeit in Pflegeheimen und Kindereinrichtungen, die Ausbildung zum Diakon usw. Ich erinnere mich auch an eine chronische melancholische bis depressive Grundstimmung in unseren Kreisen, passend zum über alles geliebten Blues. So viele von uns haben sich umgebracht, viel zu viele. Wenn wir aus Polen oder Ungarn zurückkehrten, war das jedesmal ein depressiver Absturz. Zur Wende hatte ich schon Familie, war mit einem Polen verheiratet. Unser erster Reflex beim Anschauen der Montagsdemos (von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" [und darunter ein einsames Transparent "Ich bin Volker" ;D]) war: "Jetzt geht die Ausländerhetze los!" Es wurde schlimmer als befürchtet. Meine Empfehlungen für jeden, der etwas mehr erfahren möchte: die Bücher "Bye bye, Lübben City" und "Flucht in die Wolken" von Sibylle Muthesius und das youtube-Video "für Walter Schilling: Die wunderbaren Jahre".
Sehr informativ und sehr angenehm eingesprochen, vielen Dank. Hoffe, es kommt noch irgendwann der Moment, an dem das Goldene Kalb Freud vom Sockel gestürzt wird.
Dass die frühen Vertreter der kulturhistorischen Psychologie von der Psychoanalyse beeinflusst waren, stimmt nur teilweise. Dass Lurija ein "verkappter Psychoanalytiker" gewesen sei, wie gelegentlich kolportiert wurde, stimmt sicher nicht. Er war als junger Mann sehr daran interessiert, Freud schrieb für eine frühe Veröffentlichung ein Vorwort. Aber seine Neuropsychologie entstand dann eben weitgehend ohne explizite psychoanalytische Bezüge. Er hat quasi das aufgegriffen, was Freud beiseite gelegt hatte, weil die neurologische Forschung noch nicht so weit war, aber die Psychoanalyse seiner Zeit war daran nicht beteiligt und auch nicht interessiert. Das kam ja erst Jahrzehnte später von Mark Solms, und auch recht reduziert auf Lurija, unter Ausblendung seiner Einbindung in die kulturhistorische Theorie von Leontiev & Co. Wie kritisch Vygotskij über die Psychoanalyse dachte, kann man in seiner Schrift "Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung" (in der Werkausgabe) nachlesen, ein leider viel zu wenig rezipierter Text. Erwähnen sollte man noch den vor einigen Jahren verstorbenen (west)deutschen Behindertenpädagogen Wolfgang Jantzen, besonders sein Buch "Am Anfang war der Sinn", der mal sagte, mit seiner Ausarbeitung von Leontievs Kategorie "Sinn" habe er quasi den Triebbegriff der Psychoanalyse vom Kopf auf die Füße gestellt. Zahlreiche Texte findet man auf seiner Seite "basaglia.de", exemplarisch: basaglia.de/Artikel/Sinnkosmos.pdf
Habt ihr selbst Erinnerungen an die DDR oder spielt das Thema bei euch im Umfeld eine Rolle? Oftmals wird ja die Rolle von Zeitgeschichte in der Psychotherapie unterschätzt.
Ja ich kann mich noch gut an die DDR-Zeit erinnern. Aber nur als Kind bis zum 12. Lebensjahr. Ich habe in meinen Ausbildungen den russischen Psychoanalytiker Rubinstein gelesen und "studiert". Vor allem seine Handlungstheorien haben mich sehr beeindruckt.
politisches Denken wird in ideologischen Phrasen erstickt....
Zur Wende war ich 33. Ich könnte stundenlang über die DDR erzählen, aber was mir so spontan einfällt: In den 70ern gab es eine sehr große "Szene" suchender Jugendlicher ("Alternativer"), und ich wäre mal so frei zu behaupten, dass wir uns selber die besten Psychotherapeuten waren. Ich erinnere mich an nächtelange Gespräche bei "Stierblut" und Hannes Wader über unsere inneren und äußeren Probleme, Auseinandersetzungen mit der christlichen Religion, Sinnsuche, Fluchtpläne vs. dem "Mut hierzubleiben". Wir und etliche Jugendpfarrer, allen voran der unvergessene Walter Schilling aus Braunsdorf in Thüringen; sie gaben uns eine geistige und seelische Heimat, vermittelten einen Sinn innerhalb der Mauern. Ganz groß in Mode waren "idealistische" Berufe: die Arbeit in Pflegeheimen und Kindereinrichtungen, die Ausbildung zum Diakon usw. Ich erinnere mich auch an eine chronische melancholische bis depressive Grundstimmung in unseren Kreisen, passend zum über alles geliebten Blues. So viele von uns haben sich umgebracht, viel zu viele. Wenn wir aus Polen oder Ungarn zurückkehrten, war das jedesmal ein depressiver Absturz.
Zur Wende hatte ich schon Familie, war mit einem Polen verheiratet. Unser erster Reflex beim Anschauen der Montagsdemos (von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" [und darunter ein einsames Transparent "Ich bin Volker" ;D]) war: "Jetzt geht die Ausländerhetze los!" Es wurde schlimmer als befürchtet.
Meine Empfehlungen für jeden, der etwas mehr erfahren möchte: die Bücher "Bye bye, Lübben City" und "Flucht in die Wolken" von Sibylle Muthesius und das youtube-Video "für Walter Schilling: Die wunderbaren Jahre".
Wieder einmal ein tolles Video. Danke!
Dr. Maaz ist ein großartiger Therapeut !!
Sehr informativ und interessant, danke.
Sehr informativ und sehr angenehm eingesprochen, vielen Dank. Hoffe, es kommt noch irgendwann der Moment, an dem das Goldene Kalb Freud vom Sockel gestürzt wird.
21:40 Die Therapie Müller-Hegemanns, die da beschrieben wird, erklärt mir gerade so einiges. Die Wortwahl kommt mir gerade erschreckend bekannt vor.
Während des Hörens dachte ich an Bruno Bettelheim. Wäre es nicht interessant ihn und seine Arbeit genauer zu betrachten..... :-)
Oja, das wäre sehr spannend. Haben wir mal auf die Themenliste geschrieben! :)
Dass die frühen Vertreter der kulturhistorischen Psychologie von der Psychoanalyse beeinflusst waren, stimmt nur teilweise. Dass Lurija ein "verkappter Psychoanalytiker" gewesen sei, wie gelegentlich kolportiert wurde, stimmt sicher nicht. Er war als junger Mann sehr daran interessiert, Freud schrieb für eine frühe Veröffentlichung ein Vorwort. Aber seine Neuropsychologie entstand dann eben weitgehend ohne explizite psychoanalytische Bezüge. Er hat quasi das aufgegriffen, was Freud beiseite gelegt hatte, weil die neurologische Forschung noch nicht so weit war, aber die Psychoanalyse seiner Zeit war daran nicht beteiligt und auch nicht interessiert. Das kam ja erst Jahrzehnte später von Mark Solms, und auch recht reduziert auf Lurija, unter Ausblendung seiner Einbindung in die kulturhistorische Theorie von Leontiev & Co. Wie kritisch Vygotskij über die Psychoanalyse dachte, kann man in seiner Schrift "Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung" (in der Werkausgabe) nachlesen, ein leider viel zu wenig rezipierter Text. Erwähnen sollte man noch den vor einigen Jahren verstorbenen (west)deutschen Behindertenpädagogen Wolfgang Jantzen, besonders sein Buch "Am Anfang war der Sinn", der mal sagte, mit seiner Ausarbeitung von Leontievs Kategorie "Sinn" habe er quasi den Triebbegriff der Psychoanalyse vom Kopf auf die Füße gestellt. Zahlreiche Texte findet man auf seiner Seite "basaglia.de", exemplarisch: basaglia.de/Artikel/Sinnkosmos.pdf
Danke Rätsel des Unbewussten!
Altbacken