Von wann und wem ist dieser Vortrag? Der Sprecher klingt wie aus den 1920-1950er Jahren. Entsprechend ist auch der vermittelte Inhalt. Die Erkenntniss der historischen Aufführungspraxis dass Bachs Wohltemperierte Stimmung alles andere als gleichschwebend/gleichstufig war und es viele Wohltemperierte Stimmungen (Werkmeister Kienberger, Valotti etc) gab, war damals noch nicht bekannt. Bach hat viele Mitteltönige Orgeln als Prüfer abgenommen und als sehr gut befunden. Er hat die Wohltemperierte Stimmung für Cembalo und andere besaitete Tasteninstrumente genutzt, nicht aber für Orgeln gefordert, bei denen sich die reine Obertonterz mit der gleichstufige Terz unschön reibt. Er hat die verwolften Tonarten der Mitteltönigen Stimmung in seinen Passionen für schreckliche Szenarien, wie die Schädelstätte zu Golgatha oder "Kreuziget ihn!" genutzt.
Ihre Frage "Von wann und wem ist dieser Vortrag?" möchte ich gerne beantworten. Ich kann freilich nicht garantieren, dass meine Erinnerungen zuverlässig sind, denn das Objekt, dem ich diesen Vortrag entnommen habe, liegt mir seit vielen Jahrzehnten nicht mehr vor. Es dürfte sich um eine "Zugabe" zur Aufnahme des WTK von Ralph Kirkpatrick gehandelt haben (Deutsche Grammophon Archivproduktion 1959), die mir mein ehemaliger Musiklehrer des Gymnasiums in den 70er oder 80er Jahren zur Verfügung stellte. Den Vortrag habe ich mit meinem Revox A77 Tonbandgerät mitgeschnitten. Wenn ich mich allerdings richtig irre, dann stammt diese Einführung aus einer anderen Quelle. Ihre Ausführungen modifizierend würde ich formulieren: die Kenntnis, dass Bachs Wohltemperierte Stimmung alles andere als gleichschwebend/gleichstufig war und es viele Wohltemperierte Stimmungen (Werkmeister Kienberger, Valotti etc.) gab, sollte damals in Kreisen der Musikwissenschaft eigentlich bekannt gewesen sein. Ebenso dürften die Überlegungen von Hermann v. Helmholtz und Max Planck zur Problematik der Stimmung / Temperierung bekannt und geachtet gewesen sein. Dass die Historische Aufführungspraxis den Fokus auf historische Temperierung wesentlich geschärft hat, ist unbestritten. Was ich bei historisch orientierten Einspielungen von Musik für Tasteninstrumente vermisse, sind Mitteilungen über die verwendete Temperierung - oder übersehe ich das? Die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers mit András Schiff (ECM New Serie 2270-73) enthält ein Booklet mit einem ausführlichen Beitrag von Peter Gülke (Studium von Violoncello, Musikwissenschaft, Romanistik und Germanistik), aus dem ich folgenden kurzen Ausschnitt zitiere: --- Im Jahr 1686 hatte Andreas Werckmeister vorgeschlagen, die Unsauberkeit in winzigen Dosen gleichmäßig auf alle Tonstufen zu verteilen. Als abstrakte Idee naheliegend, ließ sich das schon aus technischen Gründen nicht sofort durchsetzen; weil eine Nivellierung der Tonartencharaktere drohte, erschien es nicht einmal wünschenswert. „Das reine stimmen seiner Instrumente …", berichtete Carl Philipp Emanuel über den Vater, „war sein vornehmstes Augenmerk. Niemand konnte ihm seine Instrumente zu Dancke stimmen … Er that alles selbst" - und ging offenbar auf eine nur annähernd gleichstufige Temperatur aus. „Wohltemperiert" bedeutete nicht, wie zu meist verstanden, gleichschwebend bzw. gleichstufig, sondern lediglich „gut gestimmt". --- Die Sache mit den Tonsystemen / Temperaturen ist reichlich komplex und man muss dabei die unterschiedliche Problematik bei Tasteninstrumenten und bei A-Capella-Chorgesang in Betracht ziehen. Dafür fehlt hier der Raum. Ich danke Ihnen für Ihren Kommentar. Mein TH-cam Account wird nicht oft besucht. Er dient mir auch eher als Archiv und "Notizblock" für Dinge, die mir interessant erscheinen und sehr Vieles ist gar nicht als "gelistet" markiert und deswegen öffentlich gar nicht sichtbar. Umso mehr freue ich mich über Beiträge wie den Ihren. Zudem bin ich auf Ihre ganz besondere Webseite aufmerksam geworden, in die ich mich in nächster Zeit vertiefen möchte. Alles Gute!
@@hvanngil9575 Vielen dank für Ihre ausführliche schnelle Antwort! Eine spannende Quelle! Ich hatte mich nur an der Gleichsetzung von "wohltemperiert" und "gleichschwebend" gerieben, da ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit 2010 eingehend mit historischen Temperaturen im Vergleich mit indischen Raga beschäftigt habe. Werckmeister, Kirnberger und weitere haben sich ja weiterhin an den auf Obertönen/Brüchen basierenden bestehenden Temperaturen orientiert und diese modifiziert. Dass Bach seine besaiteten Tasteninstrumente frei nach Gehör stimmte ist bekannt. daneben hat er aber die Orgeln seines Kollegen Silbermann gespielt und als Revisor abgenommen und als gut befunden. In der sakralen Musik hat er weiterhin mitteltönig gedacht und komponiert. Sehr aufschlussreich fand ich die Bücher des Organisten Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur I und II. Danke nochmals für die Veröffentlichung und spannende Auseinandersetzung!
Selbst in Standardwerken der Musikologie wird heutzutage behauptet, die Wohltemperierte Stimmung sei identisch mit der Gleichstufigen Stimmung. In Wirklichkeit setzte sich die Gleichstufige erst nach der Französischen Revolution durch, während die Wohltemperierte einen Kompromiss zwischen Gleichstufiger und Reiner Stimmung darstellt, mit der - so gut dies bei Tasteninstrumenten eben möglich ist - der Eigencharakter der Tonarten bewahrt werden sollte. Andrei Volkonsky stimmte sein Cembalo in diesem Sinne. Hier kann man das Ergebnis hören: th-cam.com/video/ZJXb-bSSXEI/w-d-xo.html
Sehr gut!
Der Sprecher hat eine sehr deutliche und angenehme Betonung.
Sehr ausführlich! Dankeschön!
Von wann und wem ist dieser Vortrag? Der Sprecher klingt wie aus den 1920-1950er Jahren. Entsprechend ist auch der vermittelte Inhalt. Die Erkenntniss der historischen Aufführungspraxis dass Bachs Wohltemperierte Stimmung alles andere als gleichschwebend/gleichstufig war und es viele Wohltemperierte Stimmungen (Werkmeister Kienberger, Valotti etc) gab, war damals noch nicht bekannt. Bach hat viele Mitteltönige Orgeln als Prüfer abgenommen und als sehr gut befunden. Er hat die Wohltemperierte Stimmung für Cembalo und andere besaitete Tasteninstrumente genutzt, nicht aber für Orgeln gefordert, bei denen sich die reine Obertonterz mit der gleichstufige Terz unschön reibt. Er hat die verwolften Tonarten der Mitteltönigen Stimmung in seinen Passionen für schreckliche Szenarien, wie die Schädelstätte zu Golgatha oder "Kreuziget ihn!" genutzt.
Ihre Frage "Von wann und wem ist dieser Vortrag?" möchte ich gerne beantworten. Ich kann freilich nicht garantieren, dass meine Erinnerungen zuverlässig sind, denn das Objekt, dem ich diesen Vortrag entnommen habe, liegt mir seit vielen Jahrzehnten nicht mehr vor. Es dürfte sich um eine "Zugabe" zur Aufnahme des WTK von Ralph Kirkpatrick gehandelt haben (Deutsche Grammophon Archivproduktion 1959), die mir mein ehemaliger Musiklehrer des Gymnasiums in den 70er oder 80er Jahren zur Verfügung stellte. Den Vortrag habe ich mit meinem Revox A77 Tonbandgerät mitgeschnitten. Wenn ich mich allerdings richtig irre, dann stammt diese Einführung aus einer anderen Quelle.
Ihre Ausführungen modifizierend würde ich formulieren: die Kenntnis, dass Bachs Wohltemperierte Stimmung alles andere als gleichschwebend/gleichstufig war und es viele Wohltemperierte Stimmungen (Werkmeister Kienberger, Valotti etc.) gab, sollte damals in Kreisen der Musikwissenschaft eigentlich bekannt gewesen sein. Ebenso dürften die Überlegungen von Hermann v. Helmholtz und Max Planck zur Problematik der Stimmung / Temperierung bekannt und geachtet gewesen sein. Dass die Historische Aufführungspraxis den Fokus auf historische Temperierung wesentlich geschärft hat, ist unbestritten.
Was ich bei historisch orientierten Einspielungen von Musik für Tasteninstrumente vermisse, sind Mitteilungen über die verwendete Temperierung - oder übersehe ich das? Die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers mit András Schiff (ECM New Serie 2270-73) enthält ein Booklet mit einem ausführlichen Beitrag von Peter Gülke (Studium von Violoncello, Musikwissenschaft, Romanistik und Germanistik), aus dem ich folgenden kurzen Ausschnitt zitiere:
---
Im Jahr 1686 hatte Andreas Werckmeister vorgeschlagen, die Unsauberkeit in winzigen Dosen gleichmäßig auf alle Tonstufen zu verteilen. Als abstrakte Idee naheliegend, ließ sich das schon aus technischen Gründen nicht sofort durchsetzen; weil eine Nivellierung der Tonartencharaktere drohte, erschien es nicht einmal wünschenswert. „Das reine stimmen seiner Instrumente …", berichtete Carl Philipp Emanuel über den Vater, „war sein vornehmstes Augenmerk. Niemand konnte ihm seine Instrumente zu Dancke stimmen … Er that alles selbst" - und ging offenbar auf eine nur annähernd gleichstufige Temperatur aus. „Wohltemperiert" bedeutete nicht, wie zu meist verstanden, gleichschwebend bzw. gleichstufig, sondern lediglich „gut gestimmt".
---
Die Sache mit den Tonsystemen / Temperaturen ist reichlich komplex und man muss dabei die unterschiedliche Problematik bei Tasteninstrumenten und bei A-Capella-Chorgesang in Betracht ziehen. Dafür fehlt hier der Raum.
Ich danke Ihnen für Ihren Kommentar. Mein TH-cam Account wird nicht oft besucht. Er dient mir auch eher als Archiv und "Notizblock" für Dinge, die mir interessant erscheinen und sehr Vieles ist gar nicht als "gelistet" markiert und deswegen öffentlich gar nicht sichtbar. Umso mehr freue ich mich über Beiträge wie den Ihren. Zudem bin ich auf Ihre ganz besondere Webseite aufmerksam geworden, in die ich mich in nächster Zeit vertiefen möchte. Alles Gute!
@@hvanngil9575 Vielen dank für Ihre ausführliche schnelle Antwort! Eine spannende Quelle! Ich hatte mich nur an der Gleichsetzung von "wohltemperiert" und "gleichschwebend" gerieben, da ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit 2010 eingehend mit historischen Temperaturen im Vergleich mit indischen Raga beschäftigt habe. Werckmeister, Kirnberger und weitere haben sich ja weiterhin an den auf Obertönen/Brüchen basierenden bestehenden Temperaturen orientiert und diese modifiziert. Dass Bach seine besaiteten Tasteninstrumente frei nach Gehör stimmte ist bekannt. daneben hat er aber die Orgeln seines Kollegen Silbermann gespielt und als Revisor abgenommen und als gut befunden. In der sakralen Musik hat er weiterhin mitteltönig gedacht und komponiert. Sehr aufschlussreich fand ich die Bücher des Organisten Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur I und II. Danke nochmals für die Veröffentlichung und spannende Auseinandersetzung!
Selbst in Standardwerken der Musikologie wird heutzutage behauptet, die Wohltemperierte Stimmung sei identisch mit der Gleichstufigen Stimmung. In Wirklichkeit setzte sich die Gleichstufige erst nach der Französischen Revolution durch, während die Wohltemperierte einen Kompromiss zwischen Gleichstufiger und Reiner Stimmung darstellt, mit der - so gut dies bei Tasteninstrumenten eben möglich ist - der Eigencharakter der Tonarten bewahrt werden sollte. Andrei Volkonsky stimmte sein Cembalo in diesem Sinne. Hier kann man das Ergebnis hören: th-cam.com/video/ZJXb-bSSXEI/w-d-xo.html